Der Großstädter
aus Heilige und Scheinheilige
Autor: Jan Cornelius



Großstädter sind Leute, die vom Land in die Stadt gezogen sind, um dort so hart zu arbeiten, dass sie es sich leisten können, aus der Stadt aufs Land zu ziehen. Ein Spruch, den ich neulich gehört habe. Das ist ganz schön hirnverbrannt, und ich frage mich allen Ernstes, wieso manche Leute so etwas Absurdes machen. Ich habe für dieses ganze Hin- und Herpendeln überhaupt kein Verständnis.

Ich bin der absolute Großstadtmensch und sehe im Großstadtleben einzig und allein Vorteile. Okay, wenn es dunkel wird, ist es bei uns in der Gegend ziemlich gefährlich, aber die Kriminellen leiden ja selbst unter diesem Zustand. Sie sind nach dem Einbruch der Dunkelheit derart verängstigt, dass man sie nur noch zu zweit oder dritt herumlaufen sieht.

Und was außerdem ganz positiv zu bewerten ist: In unserer Gegend sieht man nie einen Kampfhund ohne Maulkorb herumlaufen, oder einen, der nicht an der Leine ist. Man sieht überhaupt keine Kampfhunde in unserem Stadtviertel, weil man sie ganz konsequent rund um die Uhr einschließt, und zwar ihrer eigenen Sicherheit zuliebe.

Zugegeben, die Umweltverschmutzung ist in der Stadt zwar enorm, aber deswegen muss man doch nicht gleich Trübsal blasen! Es gibt trotzdem noch einige Bäume, wenn man nur zu suchen weiß, und auf einem Baum habe ich gestern sogar einen kleinen Vogel entdeckt. Statt zu zwitschern hat er aus voller Kehle gehustet. Wie wir. Und das zeigt doch, dass alles um uns herum um einiges menschlicher geworden ist.

Stänkerer und Querulanten bemängeln unaufhörlich die ewigen Baustellen und Absperrungen, die den Stadtverkehr immer wieder zu Riesenumleitungen nötigen. Sie seien meistens eine himmelschreiende Zumutung für den Bürger. Diese Kritik ist jedoch totaler Schwachsinn, wenn man bedenkt, dass eine Umleitung einem die Riesenchance bietet, seine Stadt endlich mal besser kennen zu lernen.

Auch gibt es unverfrorene Panikmacher, die immerfort etwas von einem der City bevorstehenden Verkehrskollaps erzählen. Diesen Miesepetern sei hiermit klar gemacht: Mit dem Auto kommt man in unserer Stadt besser denn je voran! Von meiner Wohnung bis zum Flughafen sind es beispielsweise bestimmt mindestens drei, vier Kilometer, aber die lege ich jederzeit in nur vier, fünf Stunden zurück. Bis auf die Rushhour, da brauche ich natürlich ein paar Stunden länger, weil dann der ganze Verkehr absolut still steht. In solchen Fällen nehme ich manchmal die U-Bahn oder den Bus. Die sind dann aber immer so rappelvoll, dass sogar die Jugendlichen stehen müssen!

Das ist aber auch der einzige Nachteil der Großstadt, und daher finde ich es unheimlich schade, dass ich in einigen Tagen hier wegziehen muss, und zwar aufs Land. Das tue ich aber nur meiner Frau zuliebe, weil sie das schöne Großstadtleben überhaupt nicht mehr schön findet. Dadurch bin ich jetzt freilich ganz schön frustriert. Doch andererseits bin ich auch guter Dinge, denn ich habe nun eine Superidee: Nach dem Umzug aufs Land lasse ich mich sofort scheiden, damit ich sodann völlig frei und ungehindert wieder in meine geliebte Großstadt zurückkehren kann.

© Westdeutscher Rundfunk Köln
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.